Elvis: Schåfseckl und Schlangankeler

„Isch des d‘ Älwis?“, fragte meine Mutter mit dem Spültuch in der Hand. Ich nickte. Sie sollte schnell wieder gehen. Ich schaute nämlich „Rhythmus hinter Gittern“ und sie störte. Es war der lange Sommer 1984 und ich war zwölf Jahre alt. Die bisherigen Elvis-Filme waren immer ziemlich vorhersehbar gewesen. Elvis hatte irgendeinen supercoolen Job. Und auch er selber war supercool. Außerdem hatte er einen leicht vertrottelten Kumpel, der nicht ganz so gut aussah, wie er selber. Dann gab es zwei Frauen, mit denen Elvis etwas am Laufen hatte. Eine davon bekam am Ende Elvis, die andere den trotteligen Kumpel. Aber bei diesem Elvis-Film ging es dramatischer zu. Gleich am Anfang hatte er einen Mann totgeschlagen und war dafür in den Knast gewandert.

Meine Mutter verfolgte lau amüsiert, was auf dem Bildschirm unseres Saba-Farbfernsehers in dem schwarz-weiß Film vor sich ging. „Des war doch an riesa Schåfseckl, d‘ Älwis“, sagte sie in Richtung Bildschirm. „Seckl“ ist das schwäbische Wort für Penis.  In den Augen meiner Mutter gab es eine Menge Leute, die Schafspenisse waren. Der Nachbar, der immer piepste wie eine Maus, wenn er im Garten arbeitete und eine Frau oder ein Mädchen vorbei ging; Beschnew und Ronald Reagan, wenn sie in den Nachrichten kamen und Udo Jürgens, wenn er in der ZDF-Hitparade auftrat. Und jetzt eben auch Elvis. Andere Leute waren Arschlöcher, Simpel, Grasdackel oder sogar -wenn die Situation entsprechend war- kleine Rammler. Aber Elvis war ein Schåfseckl wie der Reagan, Breschnew und Jürgens. Ich verstand nicht wie er in diese Reihe passte, aber ich würde auch nicht fragen. Denn dann würde sie anfangen es zu erklären und mir den ganzen Film versauen.

Eine Woche vor den Sommerferien war ich am Blinddarm operiert worden. Ich hatte zwei herrliche Wochen im Krankenhaus verbracht. Der Vater meines Bettnachbarn hatte uns in der zweiten Woche ein tragbares Fernsehgerät in das Zimmer gestellt. Nachmittags schauten wir Captain Future und Dudu-Filme im ZDF. Und jeden Morgen um 10.30 lief ein Elvis-Film im ORF. Mein Heimatort ist in der Nähe des Bodensees, da konnte man sowohl schweizerisches als auch österreichisches Fernsehen empfangen. Ich hatte vorher schon Musikfilme mit Peter Alexander, Peter Kraus und Caterina Valente gesehen, die ich toll gefunden hatte. Aber dann kam Elvis. Elvis war schöner, sexier, cooler und vor allem amerikanischer als all die deutschen und österreichischen Sänger*innen.

Wieder zu Hause kramte ich die alte Gitarre meines Vaters vom Dachboden. Denn das, was Elvis in den Filmen machte, wollte ich auch tun. In irgendwelchen ganz normalen Alltagssituationen fing er plötzlich an, zu singen und zu tanzen. Und hinterher fanden ihn alle voll gut, oder er knutschte mit einem Mädchen. Ich stellte mir vor, wie ich im Matheunterricht plötzlich ein Lied singen würde, wenn ich gerade die richtige Antwort nicht wusste. Die ramponierte Gitarre meines Vaters war eine F-Loch Sunburst-Jazzgitarre, die er Mitte der Fünfziger Jahre bei seinen Bands „Starzel-Echo“ und „Blaue Jungs“ gespielt hatte. Jedenfalls stellte ich mir vor, wie ich plötzlich auf meinem Tisch stand mit genau dieser Gitarre im Anschlag, sang und tanzte, der Mathelehrer swingte mit und hinterher fanden mich alle voll gut. Auf das Knutschen konnte ich verzichten.

Meine Mutter ging zum Glück wortlos in die Küche zurück. Ich hatte meinen Kassettenrecorder auf dem Schoß. Mit ihm nahm ich alle Songs des Filmes auf. „Jailhouse Rock“ und „Baby I don’t care“ waren unglaublich toll. Auch die Auftritte dazu im Film. So musste man sein. Genau so.

Aber ich war nicht so. Ich spielte kein Instrument, ich machte keinen Sport. Ich war ein Bohnenstängelchen, das zu Hause vor dem Fernseher saß und Schokolade fraß. Den ganzen Tag. Aber zu sein wie Elvis erschien mir plötzlich eine realistische Alternative zu sein. Jedenfalls realistischer als Old Shatterhand oder  Captain Future. Denn Elvis hatte es ja in echt gegeben. Und er war auf gar keinen Fall ein Schafspenis. In meinen Augen war er eher ein Schlangankeler. „Schlangankeler“ nannte meine Mutter die gelenkigen Tänzer*innen im Fernsehen. Bei „Musik ist Trumpf“ oder so. Nur Elvis war viel cooler. Er lächelte beim Tanzen nicht so angestrengt, sondern war voll in der Musik drin.

„Rhythmus hinter Gittern“ hieß im Original „Jailhouse Rock“, wie der gleichnamige Hit. In den USA kam der Film 1957 in die Kinos, in Deutschland 1958. Elvis war zu diesem Zeitpunkt der Größte. Der Film war ehrgeizig. Das Drehbuch schrieb Guy Trosper, der 1953 für den Oscar nominiert worden war und der 1965 das Drehbuch für „Der Spion, der aus der Kälte kam“ schrieb. Und die Geschichte ist nicht schlecht. Für einen Elvis-Film. Der Lastwagenfahrer Vince Everett erschlägt in einer Bar einen Mann und muss dafür ins Gefängnis. Das tut ihm nicht gut. Er entwickelt sich zu einem abgebrühten Zyniker, der glaubt, er könne Menschen für seine Zwecke benutzen. Nach seiner Entlassung begegnet der musikalisch begabte Lastwagenfahrer der jungen Peggy, mit der er eine Plattenfirma gründet. Dank ihrer klugen Führung wird Vince ein Star. Die Gesangseinlagen im Film folgen also einem realistischen Konzept und sind weniger musicalmäßig. Je erfolgreicher Vince wird, um so arroganter wird er. Schließlich provoziert er seinen alten Knast-Kumpel Hunk so sehr, dass dieser ihn niederschlägt und ausgerechnet am Kehlkopf verletzt. Damit steht die Rock’n Roll-Karriere auf der Kippe. Im Krankenbett wird Vince geläutert. Er und Peggy werden (natürlich) ein Paar und mit seinem Kumpel Hunk versöhnt er sich. Und gesund wird er auch wieder.

Elvis legt sich schauspielerisch richtig ins Zeug. Noch überzeugender sind die Musiknummern. Allen voran natürlich die berühmte „Jailhouse Rock“ Choreographie. Regie führte der Vollprofi Richard Thorpe, der seit der Stummfilmzeit einen Film nach dem anderen herunterfilmte. Darunter der großartige Fred-Astaire-Film „Three little Words“, aber auch echte Kracher wie „Ivanhoe – Der schwarze Ritter“ oder „Die Ritter der Tafelrunde“ mit Robert Taylor. Mit Elvis drehte er später noch „Fun in Acapulco“. „Rhythmus hinter Gittern“ war einer der erfolgreichsten Filme des Jahres 1957. Trotz Ehrgeiz wurde der Film von der Kritik sehr lau aufgenommen. Aber ich nahm den Film überhaupt nicht lau auf mit zwölf. Ich war schwer beeindruckt. So schwer konnte man es als Star haben! Der arme Elvis!

Zu sechzig Prozent der Laufzeit von „Rhythmus hinter Gittern“ mimt Elvis einen echten Schåfseckl. Und zwar ziemlich überzeugend. Eine arme Wurst, die sich für ein Alphatier hält. Als ich den Film jetzt wieder gesehen habe, dachte ich, dass meine Mutter das Wort Schåfseckl vielleicht phallokratisch konnotiert hat. Das Schaf als Metapher für unempathische, stiere Blödheit, der Seckel für die Männerherrschaft. Denn genau so benimmt sich der von Elvis gespielte Vince in „Rhythmus hinter Gittern“. Sich selber bringt er mit seinem toxischen Männlichkeitsgetue nur in Schwierigkeiten. Er muss ins Gefängnis und er wird auf gefährliche Weise verletzt. Und jedes Mal ist es eine Frau, die ihn rettet, nämlich seine stille und fleißige Geschäftspartnerin Peggy. Und der Blödmann merkt es nicht einmal, weil ihm sein übergroßes Ego die Sicht verdeckt.  Peggy erkennt sein Starpotential und fördert es und sie hilft ihm mit ihrer unerschütterlichen Zuneigung. Das ist natürlich kitschig. Aber auch interessant, wenn man an Elvis enge Bindung an seine Mutter („That’s allright, Mama!“) und seinen patriarchalen Manager Colonel Parker denkt.

Vielleicht ging es meiner Mutter aber auch nur um die unanständigen Beckenbewegungen von Elvis? Ich weiß es nicht. Ich kann sie auch nicht mehr fragen. Sie ist 1996 gestorben. Aber meine Mutter, der Schåfseckl, der Schlangankeler und „Rhythmus hinter Gittern“ gehören seit diesem Morgen 1984 für mich zusammen. 

Im August 1984 ging ich zum ersten Mal in den Gitarrenunterricht im Soldatenheim. Im September kaufte ich mir für fünf Mark ein riesengroßes Elvisposter und hängte es über mein Bett. Es zeigte den schönen, jungen Elvis in Jeans und Hemd mit Gitarre. Die anderen hängten Limahl oder Boy George auf. Ich nicht. Ich hängte den King an meine Wand. Wir hatten schließlich den ganzen Sommer miteinander verbracht.

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Sendung-mit-der-Maus-Unterhosen

Am letzten Schultag vor den Ferien 2001 feierte ich mit meiner Klasse. Es war mein erstes Jahr als richtig echter Lehrer. Wir frühstückten und hörten in Dauerschleife das Lied „Wir kiffen“ von Stefan Raab. Damals war das ein großer Hit. Ich hatte furchtbare Angst, dass der Rektor hereinkommt und hört, dass wir einen Song über illegale Betäubungsmittel anhören. Das machte mich so zittrig, dass ich mein grau kariertes Hemd mit Himbeermarmelade und Kakao bekleckerte. Mein hektischer Versuch, die Flecken auszuwaschen, vergrößerte sie auf zweihundert Prozent. „Sie sehen aus wie ein Mordopfer“, sagte ein Schüler und kicherte. Dann war endlich große Pause.

Als wir ins Klassenzimmer zurückkamen, fehlte die „Wir kiffen“-CD. Ich war erleichtert, der Besitzer der CD aber nicht. Er forderte mich quengelnd auf, etwas zu unternehmen. Eine Schülerin hatte beobachtet, dass der Neuntklässler Freddy in der Pause in unserem Klassenzimmer gewesen war. „Der hat die geklaut, hundert Pro“, meinte sie, „der klaut immer alles.“ Es war schon peinlich, mit einem riesigen Marmeladefleck in der eigenen Klasse zu unterrichten, aber jetzt musste ich auch noch zu den Neuntklässler*innen und Freddy befragen. „Aber sagen Sie ihm nicht, dass ich ihn verraten habe“, rief mir die Schülerin hinterher.

Freddy war zwei Köpfe größer als ich und offensichtlich regelmäßiger Besucher eines Fitnessstudios. Ich forderte ihn auf, mir die „Wir kiffen“-CD herauszugeben. Statt einer Antwort starrte er mich nur so stechend an, dass ich augenblicklich Kopfweh bekam. Nachdem wir uns drei Minuten angestarrt hatten, sagte er mit sehr tiefer Stimme: „Ich würde ihnen unheimlich gerne in die Fresse schlagen, sie Opfer!“ Ich hielt es für diplomatisch geboten, dazu erst einmal nichts zu sagen, fühlte aber einen intensiven Fluchtreflex. Plötzlich verließ Freddy ohne ein Wort den Raum. Ich versuchte gerade probeweise ein bisschen zu atmen, da stand er wieder da. Ehe ich etwas sagen konnte, griff er nach meinem linken Arm und knallte mir die CD in die Hand. Bevor er ging, sagte er „Opfer“ und zeigte auf den roten Fleck auf meinem Hemd.

Zurück in meinem Klassenzimmer wurde ich stürmisch gefeiert. „Sie dürfen ab jetzt halt nicht mehr im Dunkeln vors Haus gehen, sowas mag der Freddy nicht, fragen sie mal Herrn Müller“, sagte ein Schüler zu mir. Als er mein Gesicht sah, sagte er schnell: „Spaß!“ Ich lehnte mich geschwächt gegen den Fenstersims. Dort stand eine noch offene Milchpackung vom Frühstück und ergoss sich über die Sitzfläche meiner beigen Stoffhose. Verschreckt über die plötzliche und ungewohnte Feuchtigkeit drehte ich mich um und verursachte großes Amüsement in meiner Klasse. Die Nässe machte die Hose durchsichtig. Was die Schüler*innen jetzt sahen, erzählen sie wahrscheinlich heute noch ihren Kindern. Ich trug an diesem Tag eine „Sendung mit der Maus“-Unterhose, ein Geschenk meiner Schwester. Die vielen darauf abgedruckten kleinen orangenen Mäuse waren jetzt deutlich sichtbar. Ich humpelte im allgemeinen Gekicher beschämt zum Pult und setzte mich. Die Schülerin, die direkt vor dem Pult saß, presste die flachen Hände gegen ihre Wangen und seufzte: „Voll süß, Sendung mit der Maus!“ Für den Rest des Tages dirigierte ich den Unterricht von meinem Pult aus.

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Abgehört!

Manchmal muss ich einfach ins Leere gucken. Kennen sie das noch? Ins Leere gucken? Alles war total anstrengend, man musste viel arbeiten oder einstecken oder beides und dann muss man ins Leere gucken. Aber im Lehrkräftezimmer geht das nicht. Garantiert kommt einer oder eine daher und fragt, ob alles in Ordnung ist. Lehrkräfte wollen ja immer über alles reden. Darum habe ich einen Trick entwickelt. Ich setze mich mit dem Handy in der Hand hin und scrolle durch die sozialen Medien. Aber tatsächlich gucke ich ins Leere. Und als ich das neulich so gemacht habe, habe ich plötzlich festgestellt, dass das Handy die Gespräche im Lehrkräftezimmer abhört. Denn auf einmal stellte sich mein Blick scharf und fokussierte folgende Werbung:

Als ehemaliger Pseudopunk saugte sich mein Blick zuerst an dem Satz „Nie wieder arbeiten“ fest. Ist ja auch als nicht Pseudopunkt ansprechend. Dann las ich den Rest. Und unglaublich: Genau das war es, worüber die Kolleg*innen an meinem Tisch sprachen. Echt jetzt! Wirklich wahr!

Ich las dann noch weiter und öffnete den Link. Es ging darum, dass ein Unternehmen mir dabei helfen wollte, schneller in Frührente zu kommen. Kein schlechtes Angebot, aber irgendwie auch ein bisschen dubios. Es erinnerte mich auch an die Anzeigen für irgendwelche Sanatorien, in denen man als ausgebrannte Lehrkraft bei Kunstpädagogik neue Kraft schöpfen kann, die früher immer hinten im b&w drin waren. Wo sind die eigentlich? Wahrscheinlich im Internet.

Und jetzt wird es richtig gruselig. Ein paar Tage später haben wir uns zu Hause über den Krieg in der Ukraine unterhalten. Als ich dann später in meinen Amazonaccount geschaut habe, bekam ich folgende Empfehlungen (jetzt bitte die Akte X Musik vorstellen).

Jetzt frage ich mich schon seit geraumer Zeit, ob die Emails von Schulbuchverlagen mit Buchempfehlungen wie „So verbesserst du deinen Unterricht“ oder „Locker bleiben und Humor bewahren“ eventuell daher kommen, dass das Smartboard meinen Unterricht abhört und die entsprechenden Rückschlüsse daraus zieht. Oder sind das schon die Cookies der digitalen Personalakte, die im Rahmen der datengestützten Qualitätsentwicklung meine Daten sammeln, damit meine Schulleitung mir mit einem No Blame Approach dabei helfen kann, mein armes kleines Lehrerdasein zu optimieren? Man weiß es nicht. Aber vielleicht ist diese ganze Digitalisierung doch ein großer, großer Fehler? (Wahrscheinlich bekomme ich jetzt Buchempfehlungen wie „Die Technikstürmer“ oder „Wie die Reptiloiden uns über das Internet ausspionieren“)

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Zeitverschwendung

Neulich saß ich morgens kurz vor sieben in einem Klassenzimmer und wartete darauf, dass der Computer mir endlich das Feld anzeigt, mit dem ich mich anmelden kann. Aber es kam nicht. Nicht nach fünf Minuten, nicht nach zehn Minuten. Das runde Dings auf dem Computerbildschirm, das irgendwie Aktivität simuliert, drehte sich und drehte sich. Also ging ich zum Kopieren. Aber der Kopierer hatte Papierstau. Zurück im Klassenzimmer drehte sich das Dings auf dem Bildschirm immer noch. Und da fragte ich mich, wie viel Zeit ich wohl nach 23 Jahren Lehrerleben mit solchen Sachen verbracht habe: Mit Zeitverschwendung. Und weil ich Listen mag, habe ich mal eine Liste mit den fünf größten Zeitverschwendern in meinem bisherigen Lehrerdasein verfasst.

Platz 1: Technische Geräte. Früher gab es die Tageslichtprojektoren, deren Licht flackerte oder nicht anging. Es gibt Kopierer mit Papierstau und dem Bedürfnis nach frischem Toner. Und ganz schlimm: Computer und Smartboards. Wer sich auf Technik verlässt, hat von vornherein verloren.

Platz 2: Am Elternabend darauf warten, dass sich Kandidaten für den Elternvertreterposten finden. Betretenes Schweigen, alle schauen weg, alle versuchen möglichst unauffällig zu sein, bis einer die Nerven verliert und sagt: Okay, ich mache es! Da ich inzwischen drei Kinder habe, die in die Schule gehen, dürfte sich die gesammelte Wartezeit auf mehrere Monate addiert haben.

Platz 3: Der Versuch, den Bildungsplan 2015 zu verstehen. Arno Schmidts Buch „Zettels Traum“ gilt als Meisterwerk. Ist aber absolut unlesbar. Aber gegen den Bildungsplan 2015 ist „Zettels Traum“ ein Arztromanheftchen. Zettels Albtraum.

Platz 4: Endlos lange Planung von Unterricht, der komplett in die Hosen geht. Wie oft habe ich Unterrichtsstunden geplant und durchstrukturiert, die in der Theorie super aussahen, aber praktisch verwirrte Schüler*innen und eine frustrierte Lehrkraft hinterließen. Und wie oft bin ich völlig unvorbereitet in ein Klassenzimmer gestolpert und hatte dann herrliche Unterrichtsstunden. Na ja, okay, auch nicht so viele. Aber halt ohne den Aspekt Zeitverschwendung.

Platz 5: Die Evaluation. Mich würde interessieren, ob es eigentlich eine Schule gibt, die von sich behaupten kann, dass die Fremd- oder Selbstevaluation ihr wirklich etwas genützt hat. Die gibt es bestimmt. Aber ich kenne keine.

Ehrenwerte Erwähnungen: Endlos lange Anfahrten zu Fortbildungen. Verstehen, was das digitale Reisekostenformular von mir will. VERA korrigieren.

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Tante Sigrun

Im Dezember bin ich 50 geworden. Davon hatte ich immer geträumt. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich ein cooler Fünfziger mit schwarzem Rollkragenpulli, schicker Hornbrille und dichter, grauer Kurzhaarfrisur sein würde. Einer mit einem Lächeln, dass zwischen frech, verschmitzt und melancholisch changiert. Ich würde, so hatte ich es mir ausgemalt, zwischen den jüngeren Kolleg*innen stehen, sie würden mir Fragen stellen, aus denen ihrer Bewunderung für mich erkennbar würde. Ich würde weise lächeln, aber mit der Hand bescheiden über meine Haare fahren und dann eine kluge, aber auch witzige Antwort geben. Ich würde sein wie der späte Sean Connery, nur mit mehr Haaren.

Nun haben wir neulich im Kreisvorstand für den Mitgliederbrief ein Gruppenfoto gemacht. Als ich das Foto sah, war ich schon ziemlich erstaunt. Die anderen alle entweder schöne junge Menschen oder gediegen gealterte Endfünfziger. Und dazwischen etwas, das aussah wie meine Tante Sigrun. Die späte Tante Sigrun. Aber es war nicht Sigrun, sondern ich. Keine Haare, sondern eher graue Federn, die unmotiviert und dünn vom Kopf abstanden. Mein Lächeln war irgendwie eher großmütterlich milde und ich blinzelte kurzsichtig durch meine spiegelnde Hornbrille. Meine grauen Klamotten und Haare verschmolzen unauffällig mit dem beigen Wandanstrich im Hintergrund. Von meinen schmalen Schultern aus verbreiterte sich mein Körper und wurde dann ab der Mitte wieder schmaler. Neben all den anderen herrlich kompetent lächelnden Menschen wirkte ich klein und ein bisschen müde. „Du bist gut getroffen“, meinte meine Nebensitzerin, als wir uns das Foto auf dem Handydisplay anschauten. Und getroffen war ich tatsächlich.

Zu Hause zeigte ich das Bild der Frau und den Kindern und wiederholte empört, was die Nebensitzerin gesagt hatte. „Absolut“, sagte die Frau, „das bist du, kein Zweifel.“ Die Kinder nickten. „Aber da sehe aus wie Tante Sigrun!“, rief ich. „Stimmt“, sagten sie alle verblüfft, „tatsächlich!“

Na gut, dachte ich. Tante Sigrun ist eine sehr nette Frau, die immer gute Laune hatte und nett zu allen war. Wer will schon wie Sean Connery sein, wenn er wie Tante Sigrun sein kann?

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Festkleben

„Mann“, sagt die Frau und betrachtet die Küche, „das sieht ja hier aus wie nach einem Museumsbesuch der Letzten Generation.“ Ich hatte gekocht. Und möglicherweise habe ich mich dabei ein bisschen benommen, als sei ich Klimaaktivist und die Küche ein Van Gogh. „Und man muss sich noch nicht mal ankleben“, sagt die Frau und betrachtet den Fußboden, „man klebt einfach von selber fest.“

Vielleicht war ich ein bisschen unkonzentriert, denn am Morgen war ich bei einem Vortrag über die Klemmstudie. Be-klemm-ende Studie wäre der bessere Titel. Es war beängstigend.

„Was ist?“, kräht das große Kind. „Papa ist Klimaaktivist in der Küche“, sagt das jüngste Kind, ohne von seinem Asterix aufzublicken. „Kein Scheiß, jetzt“, sagt der Große fast ein bisschen bewundernd. „Nein“, sage ich großspurig, „ich bin Bildungsaktivist, ich protestiere gegen den Lehrkräftemangel!“

Der Große verdreht die Augen: „Aha, und wo klebst du dich fest?“

„In der Küche“, sagt die Frau.

Der Große verdreht wieder die Augen: „Ihr müsst euch in der Schule festkleben oder so.“ Ich sehe schon meinen kompletten GEW-Kreisvorstand vor dem Kultusministerium am Boden festgeklebt. Oder den Personalrat an der Klotüre im Staatlichen Schulamt.

„Ich fände es gut, wenn die Lehrer sich zu Hause festkleben würden“, meint das große Kind hämisch grinsend. „Ich finde, Papa sollte mit Lebensmitteln schmeißen, das kann er schon so gut“, sagt die Frau und schaut mir mit kritischem Blick bei meinen Reinigungsbemühungen zu. „Ja“, sage ich mit der Stimme Winfried Kretschmanns, die kann ich nämlich gut nachmachen, „des ischt richtig luschtig.“

Die Frau schaut auf. „Ja, den Kretschmann, den sollte man mal so richtig mit Kartoffelpüree und Tomatensoße einreiben, als Dankeschön für seine Sprüche über Grundschullehrkräfte.“ „Genau“, sage ich mit Kretschmann-Stimme, „und nochher wasche ich mich einfach mit einem Wäschlabba und kaldem Wasser, des goht nemlich au.“

Die Frau und ich lachen. Der Große und der Kleine verdrehen die Augen. „Ihr seid so peinlich!“

„Wenn der Kretschmann gemeine Sachen über die Grundschule sagt“, sagt das jüngste Kind, „dann können wir ihn ja mal in meinem Klassenzimmer festkleben.“

„Wieso denn ausgerechnet bei euch?“, fragt das große Kind.

„Unsere Lehrerinnen sind echt gut“, meint das Kind, „dann sagt der so was nicht mehr.“

 „Vergisses“, spricht das große Kind, „egal, was du machst,  keiner tut was, egal ob Bildung oder Klima. Keine Ahnung, warum.“ Er sieht die betroffenen Blicke von der Frau und mir. „Ist doch so, oder?“, sagt er abgeklärt.


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Gummis and Giveaways

Als ich noch an der Pädagogischen Hochschule war, da gab es immer einen Stand der GEW. Hinter dem Tisch stand ein typischer Gewerkschaftszausel (wie ich heute wohl selber einer bin). Hinter sich hatte er den GEW-Banner aufgehängt. Ein Reißnagel war schon wieder abgegangen, weshalb man nur EW lesen konnte. Vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte er jede Menge winzig klein bedruckte Broschüren, die mich wohl interessieren sollten. Weil ich aber damals noch nicht offen zu meiner Kurzsichtigkeit stehen wollte, wusste ich nie so genau, worum es ging. Darum nahm ich gern ein paar GEW-Bleistifte und Kugelschreiber mit, damit der GEW-Zausel nicht traurig war. Und ich glaube, dass es mehr auch gar nicht gab. Kugelschreiber, Bleistifte, Lineale, Büroklammern und Radiergummis (die aber ziemlich schmierten).

Jetzt habe ich neulich einen schnieken, jungen Typen hinter so einem Werbetisch gesehen. Hinter sich hatte er kein popeliges Banner, sondern so ein Messebauding. Ein Metallgestell, auf dem Kunststoffflächen mit Magnet angebracht werden. Das sei „ganz easy“, meinte er. Die Sachen, die er auf seinem Tisch ausgebreitet hatte, seien auch kein Werbematerial, sondern „Giveaways“. Und bei den Giveaways wurde es richtig interessant.

Da lagen kleine quadratische Pappschachteln mit der Aufschrift: „Für gemeinsame Höhepunkte“. Ich glaubte zuerst, es seien Streichhölzer, aber der schnieke Typ meinte, es seien Kondome. Nicht mehr Radiergummis, sondern Gummis. Daneben lagen Schnuller. Ist das, dachte ich, eine Aussage über die Qualität der Kondome? Ich traute mich aber nicht zu fragen. Neben den Kondomen und den Schnullern lagen Tempotaschentücher mit der Aufschrift „Immer da wenn man uns braucht“. Liebe Gewerkschaft, dachte ich, da fehlt ein Komma. Aber abgesehen davon: Kondome, dann Schnuller, dann Tempos für die Tränen. Was will die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft damit eigentlich sagen? Liebe Giveaway-Abteilung der GEW: Was?

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Rettet uns! Werdet Lehrer:in!

https://www.lieber-lehramt.de/

In meinem Fach im Lehrkräftezimmer lag ein Stapel Faltblättchen. Am oben liegenden Exemplar war ein quietschgelbes Post-It befestig: „Bitte an die Neuner verteilen!“ Ich schaute mir das Faltblatt an. Vorne drauf stand „Beweg was: Werde Lehrer:in!“ Etwas kleiner und in die Ecke gequetscht war das große Landeswappen mit dem Hinweis, dass dies ein Faltblatt des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst sei. Dominiert aber wurde die Vorderseite von einem Foto, auf dem zwei Modells vom Typ Fridays-for-Future abgebildet waren. Hippe junge Menschen, die freudestrahlend irgendwo hinguckten. Beim Aufschlagen des Blättchens konnte man noch mehr hippe Modells entdecken, die voller Spannkraft bei gutem Wetter in einer urbanen Gegend verortet waren. Es sah nach Werbung für eine Modemarke wie Jack&Jones oder H&M aus. Das einzige Foto, das eventuell ein bisschen mit dem Beruf der Lehrkraft zu tun hatte, zeigte eines der hippen Modells, das sich ratlos über ein kleines Holzfahrzeug beugte, als wolle es sagen: Was soll ich denn bewegen, bitte? Dieses Ding hier bewegt sich schon mal nicht! Ein zweites Modell steht daneben und schaut konsterniert direkt in die Kamera, als wolle es sagen: Ihr habt mir ein Shooting für ein modernes, junges Unternehmen versprochen! Und jetzt das?
Ich teilte das Faltblatt bei den Neunern aus. Vielleicht überlege ja jemand mal Lehrkraft werden, erklärte ich, dann könne man sich hier informieren. Ein Schüler meldete sich. „Ich könnte mir das schon vorstellen, Lehrerin zu werden“, bekannte eine Schülerin. Ich nickte wohlwollend, denn es handelte sich um eine sehr leistungsstarke Schülerin. „Du?“, fragte ein Mitschüler ungläubig. Ich ahnte schon Böses und wollte eingreifen. „Du bist doch voll klug und nett“, fuhr er fort und ich entspannte mich. „Du musst doch nicht Lehrerin werden“, rief er, „du kannst doch auch was Richtiges machen, ein Unternehmen gründen, oder so!“ Da verspannte ich mich dann doch wieder. So sahen also die Schüler*innen also meinen Beruf. Kein Wunder will das keiner machen!

Liebes Wissenschaftsministerium, ich möchte zielgruppengerechteres Faltblatt vorschlagen. Vielleicht könnte man mit Mitleid punkten? Auf meinem Faltblatt ist vorne das Foto zweier grauhaariger, etwa Sechzigjähriger Lehrkräfte mit ziemlich verhärmten Gesichtszügen drauf. Im Hintergrund ein typisches Lehrkräftezimmer mit großen Korrekturstapeln auf dem Tisch. Dazu der Schriftzug: „Rette uns! Werde Lehrkraft!“ Wenn man das Faltblatt auffaltet, sieht man eine Gruppe sehr klischeehafter Lehrkräftestereotype im Rentenalter. Dazu der Text: „Du arbeitest gern mit älteren Menschen? Werde Lehrer:in!“ Oder „Du willst uns erlösen? Dann werde Lehrer:in! Ohne dich wird unsere Pension bis 75 geschoben! Ohne dich wird demnächst unser Deputat verdoppelt! Ohne dich wird der Klassenteiler demnächst auf 50 erhöht!“ Oder: Vielleicht könnte man damit das Helfersyndrom der Generation FFF ansprechen?

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SEXUALMORMONEN

Jugendliche verhalten sich ganz ähnlich wie der „Immer alles als sexuell doppeldeutig interpretierende Charlie“. Das ist eine Figur aus der unter Geschichtslehrern sehr beliebten Reihe „ZDF Sketch History“. Dieser Charlie kann mehrdeutige Wörter immer nur auf eine Art interpretieren. Eben sexuell. Und darum muss er dauernd kichern. Und Jugendlichen zwischen der 7. und 10. Klasse geht es genauso. Ich unterrichte seit zwanzig Jahren Jugendliche. Darum habe ich eine Vermeidungsneurose für sexuell konnotierte Wörter entwickelt.

„Du hast keinen Stuhl? Siehst du den Stapel da drüben? Da kannst du dir einen runterholen!“ Damit ging es vor zwanzig Jahren in einer 8. Klasse los. Nie wieder hatte ich einen derartigen Lacherfolg bei Schüler*innen. Seither vermeide ich die Worte „einen“ und „runterholen“ als Kombination. Sehr schwierig ist auch das Wort „Ständer“. Auch wenn man von „Wäscheständer“, „Notenständer“, Mikrofonständer oder „Buchständer“ spricht, zwischen der 7. und 10. Klasse wird anschließend minutenlang gekichert. Ich benutze nur noch das Wort „Stativ“. Genauso bei „Schwanz“, „Schwertscheide“ oder „Sextant“. Schwanz benutze ich nur noch in Verbindung mit „Katze“, ich sage Schwerthülle und Navigationsgerät. Wenn in Geschichte die Feinde ins Land „eindringen“, benutze ich das Wort „angreifen“. Und das Schlimmste ist: Ich vermeide diese Wörter auch privat. Wie oft bin ich schon irritiert angeschaut worden, wenn ich vom Mikrofonstativ gesprochen habe. Und jetzt kommt das Allerschlimmste! Wenn jemand zu Hause oder Freunde eines dieser Wörter benutzen, dann muss ich kichern. Ich kann nicht anders. Es ist schrecklich. Theodor W. Adorno nennt das eine „Deformation Professionale“. Aber auch dafür gibt es eine ganz rationale Erklärung. Während meines Studiums hörte ich über Wochen eine Radiosendung, in der die 100 besten Phallussymbole gesammelt wurden. Darunter waren auch völlig absurde Dinge wie ein Sofa oder ein Küchenhandmixer. So absurd das auch war, immer wenn ich damals ein Sofa oder einen Küchenhandmixer sah, dann dachte ich an Phallusse (Ich weiß, es heißt Phalli, aber es geht hier um meine Credibility als Hauptschullehrer!). Und die Schule ist für eine Lehrkraft eine Dauersendung, die erst im Ruhestand endet. Und für manche nicht mal da.

Vor unendlich langer Zeit hatte ein Jugendlicher in meiner Klasse Schwierigkeiten, sich das Wort „Sexualhormone“ zu merken. Er sagte stattdessen: „Herr , dass wir Oeser kichern müssen liegt an den Sexualmormonen.“ Ein Wort, das mich in seiner semantischen Interferenz bis heute verstört, so wie diese Farbkombinationen, von denen man Augenflimmern kriegt. Aber immer, wenn Schüler*innen wegen einem sexuell mehrdeutigen Wort kichern müssen, denke ich: „Ach ihr lieben Sexualmormonen, ist schon gut, wenn ihr nicht Lehrkraft werdet, habt ihr es bald überstanden.“

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Der Orden der grünen Masken

Wenn ich bei uns im Dorf einkaufen gehe, muss ich mich immer zusammenreißen. Man nimmt als Lehrkraft mit der Zeit seltsame Gewohnheiten an. Immer, wenn ich jemanden sehe, der die Maske unter der Nase trägt, muss ich die Lippen zusammenkneifen. Sonst würde ich sagen: „Es ist eine Mund- UND Nasenbedeckung! Und! Für beides!“ Denn genau so sage ich das auch zu Schüler*innen, wenn die Nase im Freien hängt und fröhlich Aerosole in den Raum dampfen.

Als ich mal beim Bäcker in der Warteschlange gestanden habe, haben mich gleich zwei professionelle Deformationen erwischt. Ein schnaufender Mann ist einfach an der Schlange vorbeigegangen und hat sich vor mich gestellt. Und das mit der Maske über dem Kinn! Eine klassische Pausenaufsicht-am Bäckereiverkaufsstand-Situation. Und wie ein Reflex kamen die Worte aus mir heraus: „He, es ist eine Mund- UND Nasenbedeckung! Und die Schlange fängt da hinten an!“ Ich zeigte in die entsprechende Richtung. Der Mann schaute mich an und zog seine Maske über Mund und Nase. Sie war bedruckt mit den Worten „#Diktatur“. Er murmelte irgendwas von „Systemschaf“ und reihte sich am Ende der Schlange ein. Wenn ich im Beisein meines Vaters solche Lehrkraft-Ausbrüche hatte, kicherte er immer und sagte: „Die Welt ist voller ungezogener Kinder, oder Herr Lehrer?“

Ich glaube, ich werde die Masken vermissen, wenn wir sie (eines fernen Tages) nicht mehr brauchen. Die Stoffmasken, die am Anfang der Pandemie voller Euphorie genäht wurden, waren Kunstwerke. Plötzlich trugen alle ihre alten Schlafanzüge oder Kissenbezüge im Gesicht. Maskentechnisch war eine herrliche Zeit. Sonst eher nicht. Meine Lieblingsstoffmaske war rot mit weißen Punkten und in ihrem früheren Leben ein Puppenstubenvorhang. Eine Schülerin trug ein glitzerndes, mit Strass benähtes, gefüttertes Kunstwerk im Gesicht, um das ich sie sehr beneidete. Unter den Lehrkräften nannten wir die Maske heimlich „die Discomaske“. Dann kamen die medizinischen Masken. Modisch ein echter Rückschritt. „Jetzt sehen alle plötzlich aus wie Professor Brinkmann im OP!“, sagte ich zu einer jüngeren Kollegin. Sie schaute mich verständnislos an: „Wie wer?“ Da wurde mir klar, dass sie zu Zeit der Ausstrahlung der Schwarzwaldklinik noch nicht einmal geboren war. Ich nahm mir vor, andere Vergleiche zu finden.

Dann kamen die grünen MP3-Masken, oder wie immer die Abkürzung dafür lautete. FFP2? An den grünen Masken erkannte man bei jedem Einkauf die Kollegen. Auch irgendwie gemeinschaftsstiftend. Vielleicht sollte man künftig nicht mehr von Lehrkräften sprechen, sondern vom „Orden der Grünen Masken“? Dann kamen die ersten Schüler*innen mit bedruckten Masken. Erste Menschen trugen Rosa, statt OP-Blau. Dann kamen die Masken mit Haifischgebiss, Regenbogenfarben oder Tarnfleck. Auf einer Maske stand das Wort „Prinzessin“. Auf einer anderen war ein Einhorn abgedruckt. Die Impfgegner ließen Masken für sich herstellen mit dem Aufdruck „#Corona-Diktatur“ und machten es einem so leicht zu entscheiden, mit wem man nicht mehr zu diskutieren brauchte. Seriöse Menschen trugen jetzt schwarz. Auch im Gesicht. Bei einer Antikriegsdemo trugen die Menschen blau-gelbe Masken. Die Menschen haben ihre Mimik durch ausdrucksstarke Masken ersetzt. Auf einer stand „Give Peace a Chance“. Ich habe darüber nachgedacht, mir für die Schule Masken bedrucken zu lassen. „Habe heute schlechte Laune, also Vorsicht!“ oder „Hättest du vorhin aufgepasst, müsstest du jetzt nicht fragen!“ könnte darauf stehen. Mal sehen.

Corona werde ich nicht vermissen. Die Masken schon ein bisschen.

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